Mit Kamera und Kettensäge auf der Suche
Vera Reschke enthüllt, um auf den Kern des Seins zu stoßen - zum einen mit dem Fotoapparat, zum anderen mit dem Rüstzeug des Holzbildhauers. Dass ihr Blick über die gängigen Wahrnehmungen hinaus geht, liegt sicher nicht zuletzt daran, dass die in Nigeria aufgewachsene Deutsche früh eine kulturelle und topografische Weitsicht entwickelte und dass die bereits Dreizehnjährige lernte, mit der Kettensäge umzugehen – der Vater war in der Holzwirtschaftsbranche tätig. Bewusst sah sie sich wohl nach der Ausbildung in den Bereichen Fotografie, Body-Art und Design als Künstlerin, speziell als Fotografin.
Ihre Fotoserien nennt sie »viewfinder«, »just people« und »aperture« - um damit schon zu signalisieren, dass es ihr zum einen um die Möglichkeiten der Technik geht, zum anderen aber auch um den Menschen, und zwar den Menschen schlechthin. Zunächst geht es Vera Reschke darum, die fotografische Realität »im hektischen Alltag … so zu abstrahieren und umzusetzen, dass Farbe, Form und Bildausschnitt trotz aller Bewegung zur Ruhe kommen«. Der gestaltete Raum, mag man ihn auch Sehnsuchtsraum nennen, soll nicht allein abgebildet werden, sondern beim Betrachter auch die Phantasie wecken, hinter das Objekt, den Menschen zu blicken. Im Idealfall treffen sich da die Weltsicht der Künstlerin und die Ein-Sicht des Betrachters. Vera Reschke erschafft keine Porträts, sondern Impressionen von dargestellten Personen, die sie in Afrika oder Asien sieht, deren meist einfache Lebensweise und Erscheinung unseren Blick aufs Wesentliche schärfen soll – mit Hilfe von Verfremdungen, Überblendungen und Unschärfen-Tiefe sucht sie gerade am bloß sichtbaren Gegenstand vorbei nach Erkenntnis: Ob es sich – wie sie sagt - um »eine Taube auf dem Dach, tropische Landschaften, Palmen, Architektur« oder um die menschliche Figur handelt, ist nur notwendig als Erlebnisbasis, doch ist die Fotokünstlerin weit entfernt von einer nostalgischen oder touristischen Oberflächlichkeit. Zur Verfremdung gehört auch die Einbeziehung teils befremdlicher Substanzen wie Leinöl oder Forstmarkierfarbe, die eine expressive Steigerung des Eindrucks ermöglicht.
Von hier aus schlägt sich ein Bogen zur Skulptur, genauer: zum Holz – denn die Forstmarkierfarbe wird normalerweise in der Waldwirtschaft eingesetzt. Das war allerdings ganz und gar nicht im Sinne der Künstlerin, als sie mit der Holzbearbeitung begann. Inspiriert von der eher archaischen Ursprünglichkeit afrikanischer Plastiken, sucht sie eher den natürlichen Kern des Holzes, um daraus Figuren und abstrakte organische Formen zu schaffen. Auch in der Skulptur will Vera Reschke keine Abbilder herstellen, sondern Motive, die im Einklang mit der Beschaffenheit des Materials stehen, aber auch den Blick öffnen auf Urformen, elementare Stimmungen. Dass das eine oder andere kreisförmige Objekt Anklänge an kalligraphische Zeichen ostasiatischer Herkunft aufweisen, erklärt sich aus dem globalen Verständnis – seit wenigen Jahren taucht Vera Reschke immer intensiver in die Kulturwelt insbesondere Südostasiens ein. Wie bereits oben angedeutet, sind derartige Anleihen jedoch vorwiegend als Bereicherung des europäischen Denkens vorgesehen. Deshalb verwendet die Bildhauerin heimische Hölzer genauso wie außereuropäische, um deren Eigenart rein plastisch auszuloten. Die Modellierung mit dem Auge auf der jeweils verschiedenen Maserung, dem variierenden Wuchs entspricht in der Fotografie dem Ausformulieren von Licht und Schatten. Dass die Künstlerin neuerdings auch ihre Plastiken mit Forstmarkierfarbe behandelt, basiert einerseits auf der Zusammenarbeit mit der Fotografiekollegin Maks Dannecker – im Wechsel treten die Gattungen in einen gemeinsamen Dialog –, andrerseits auf der Steigerung des Eindrucks auch der Skulpturen: Dabei muss es nicht immer ein leuchtendes Rot sein, sondern auch mal ein zurückhaltendes Weiß, das bereits in früheren dreidimensionalen Arbeiten als Weißhöhung zum Einsatz kam.
Enthüllung betreibt Vera Reschke hier wie da. Enthüllung nicht als Bloßlegung, sondern als Frei-Legung: individuelle Befreiung vom vordergründig Sichtbaren und in der Folge Sichtbarmachung innerer Werte. Das klingt überheblich, doch im besten Sinne erzeugt die Künstlerin ein Gespür für das Miteinander – der Gattungen, der Materialien, aber auch der Menschen, über die individuelle Befindlichkeit und letztlich auch über alle Grenzen hinweg.
Dr. Günter Baumann, 2016 (Kunsthistoriker, Stuttgart)